Erdnussflips 14.03.2015
Es sollte eigentlich die Einweihungsfeier eines Projektraumes für inklusive Kunst am Ufer der Spree in Mitte werden. Seine Freunde und Bekannten (seine Leidensgefährten) waren auch anwesend und hatten einige ihrer Arbeiten dort ausgestellt. Es war ein bunter Abend in geselliger Runde und interessanter, weil für ihn neuer, Umgebung. Bärbel hatte sich mit ihren 72 Jahren noch ein paar schwarze Strähnen in ihre weißen Haare machen lassen. Labo war gerade braungebrannt von seinem Job als Snowboard Lehrer aus den Bergen zurückgekehrt, und Ule war mit seiner neuen, sympathischen Freundin da, und er verstand wieder einmal nicht, wie Ule das eigentlich anstellte, ständig eine neue Freundin. Lag wahrscheinlich an Ule´s ewigem Tango-Gebalze, dachte er sich süffisant, denn er verachtete die in der Stadt grassierende Tangowelle, u.a. auch weil er eigentlich im tiefsten Innern verklemmt war, aber das brauchte ja keiner zu wissen… – vor allem Ule nicht. Draußen brannte ein Feuer in einer Tonne. Zwei Gitarristen spielten Blues und Rock, ein paar halbleere Sekt- und Weinflaschen standen noch rum, und das Buffet war wie immer überschaubar. Zum Glück hatte sich noch keiner über die Erdnussflips und die Salzstangen hergemacht, alles andere war nämlich schon weggefressen, denn er kam ein wenig verspätet und platzte mitten in die Rede von Gabriele herein, deren Bild übrigens das Größte war und natürlich am besten Platz hing. Er war die Qualität der ausgestellten Arbeiten gewohnt, so dass er sich ganz den Menschen widmen konnte, die sie produziert hatten und die er teilweise lange nicht gesehen und gesprochen hatte. Er mochte diese Menschen, denn sie waren wie er: Kinder Gottes eben, und es waren seine Freunde.
Auf einmal sprach ihn Thomas Z. an, ob er nicht mal Lust hätte einen Blick in die Galerie um die Ecke zu werfen, wo auch gerade die Eröffnung einer Ausstellung gefeiert würde. Dort, Kontrastprogramm: Qualitativ hochwertige, komplexe Arbeiten, Wein aus Gläsern, die von lackierten Fingernägeln umfasst wurden, attraktive Galeristinnen und gut angezogene Menschen, Professionalität, ein Hauch von Hochkultur.
Seine Laune ging in den Keller. Da waren sie wieder: Seine Selbstzweifel, sein Ärger und seine Wut über sich selber und die anderen – die Arrivierten nämlich – seine ohnmächtige Verzweiflung, seine Orientierungslosigkeit und innere Zerrissenheit, seine Heimatlosigkeit. Und Immer und immer wieder die gleichen bohrenden Fragen, die er sich stellte: „Wo gehöre ich hin?“ „Warum gehöre ich nicht hier her, sondern dort hin und warum?“. Er wollte auch so eine geile Olle aus der Galerie, wollte auch mal Märchenpreise für seine Bilder aufrufen, obwohl er genau wusste, dass dies nicht zu ihm passte – weder die Olle mit den langen Beinen in schwarzen Stiefeln und dem rot angemalten Mund, die auf seinen Kopf hätte spucken können, so groß war sie, noch die fünfstelligen Preise. Und doch kam er sich auf einmal klein und mickrig vor, übertroffen vielleicht nur von Jens , der ihn begleitete und der mit seinem Stetson und seinen schwarz-roten Cowboystiefeln physisch sogar noch kleiner war als er und der wohl gleiches empfand, wenn auch um Größen versetzt. Er konnte es sich natürlich nicht nehmen lassen mit ihm noch an der Großen vorbei zu defilieren und laut, so dass Sie es ganz sicher hören musste, zu sagen: „ Man bekommt nur schlechte Laune hier“. Ja, er war jetzt auf Krawall gebürstet, und er musste wenigstens noch seine Duftmarke hinterlassen. Bei den Löwen im Zoo wird ja auch immer davor gewarnt, dass die Tiere durchs Gitter urinieren und man sich gefälligst in Acht nehmen soll. Eigentlich wollte er ja nur, dass Sie ihn anquatschte, ihm hinterherrannte, aber wie immer musste er sich darauf bis zum St. Nimmerleinstag gedulden. Es biss nämlich schon lange keine mehr an, weil außer einem schlaffen, fast toten Wurm auch nichts mehr am Haken hing.
Also wieder zurück zur Plastikbecher Party und auf direktem Wege zu Gott: In die Runde fragte er, an wem Gott wohl mehr gefallen hätte, an uns unprofessionellen Künstlern, die sich um Inklusion bemühen oder an den Profis nebenan, wo nur das Geld und die kühle und glatte Fassade im Vordergrund stehen würde. Jens nickte zwar verständnisvoll, aber unwissend, seine Krokodilträne ab, doch der Abend war gelaufen. Nun noch ein bisschen demonstrativ rumstehen, dachte er sich, und das verdrießliche Standardgesicht aufsetzen, dann konnte es wieder nach Hause gehen, aufs Abstellgleis und damit ins kalte, leere Bett in seiner großen Wohnung in Lichterfelde.
Und dann kam zu guter Letzt auch noch Claudia: Claudia war Teil des Harems, der im gleichen Haus untergebracht war, und von einem zugezogenen Amerikaner namens Michael gemanagt wurde, der ungefähr sein Alter hatte und der zusammen mit seinen Frauen einen Verein für kreative Nachhaltigkeit leitete, wobei er anscheinend mit seiner Lebensgefährtin in einer offenen Beziehung lebte. Jedenfalls legte diese bei einer früheren Begegnung mit ihm gleich mal den Arm auf seinen Rücken, als er sie einmal ansprach. So ganz casual eben. Claudia dagegen war Gartenbauerin, wie er sogleich erfuhr. Als er sich ihr gegenüber als Biologe aufbaute, entgegnete sie: „Freund!“. Sie war so unglaublich offen und positiv, also entschied er sich, dass er sie nicht wert war, jedenfalls nicht an diesem Abend. Sie war außerdem bedeutend jünger als er, aber er war jetzt einfach zu durcheinander – zu aufgewühlt und zu übellaunig– um sie wirklich wahrnehmen zu können und ihr gerecht zu werden, obwohl sie gar nicht mal schlecht aussah. So schlüpfte er wieder mal in die Rolle des arroganten Kotzbrockens, weil er ja im Geheimen doch von ihr gemocht werden wollte. Ganz besonders eben auch als Kotzbrocken. Das war sozusagen die Prüfung, die sie erst mal bestehen musste, sonst lief bei ihm sowieso nichts mehr. Und er war ein begnadeter Schauspieler. Außerdem wurde es auch langsam kalt, denn es war erst Mitte März, und sie standen die ganze Zeit draußen. Drinnen spielten ja die Blues Brothers und Unterhaltung dort war ausgeschlossen. Er wollte nun auch seine Ruhe haben, deprimiert sein; sich wie ein Schwein noch im Frust und Selbstmitleid wälzen, bevor er sich wieder aufmachte zu sich selbst zu finden, um sich zu mögen und sich nicht länger weiter zu verachten, und das gelang ihm am besten, wenn er alleine in seiner Wohnung war, wo ihn die Dinge umgaben, die er mochte und schätzte und die ihm etwas bedeuteten. So entschloss er sich zu verstummen, denn jedes weitere Wort wäre Eins zu viel gewesen. Er ließ Claudia also dort, wo er sie gefunden hatte, zurück, schnappte sich Jens und zusammen ging´s schweigend Richtung U-Bhf. Heinrich Heine Str. nach Hause, zum „in der Ecke stehen“ sozusagen. Unterwegs fiel ihm aber doch noch was vermeintlich Geistreiches ein: „Ich bin verrückt, daher bin ich entrückt“, dichtete er in seiner Verzweiflung, was er mit lautem und zu langem Lachen gegenüber Jens illuminierte. Die eigenen Bonmots sind doch die Besten, v.a. wenn sie sich auch noch selbst als Gegenstand haben, dachte er sich, bevor er sich endgültig innerlich pulverisierte und empfand, dass der Abend nun rasch ein Ende finden sollte, da es sonst wirklich noch peinlich werden könnte.
Jens U-Bahn kam gleich, und seine kam in drei Minuten, entnahm er der Anzeigetafel. T. war froh, als er endlich in seiner reizarmen Gegend in Lichterfelde angelangt war, ihn sogleich die Stille umhüllte und er seine Wohnung mit dem Ersatzschlüssel aufschloss, den er unter der Skulptur auf seiner Terrasse hervorzog, denn seinen Schlüsselbund hatte er vor Verlassen seiner Wohnung etwa 20 Min lang vergeblich gesucht, weshalb er auch ohne Wohnungsschlüssel losfuhr und eben auch nur noch die Erdnussflips abbekam. Er wusste nun aber jetzt sicher, wo er seine Schlüssel finden würde: in der Tasche seiner alten Hose nämlich; dort hatte er sie vorhin übersehen.